Anna Zika

 

Gewölke, weit.

Vom Sehen als Wandern

 

Zu den Bildern von Markus Kottmann

 

Und sie hören nicht auf,

verfließend den Anblick zu wechseln

und sich zu wandeln in Risse

von Formen jeglichen Aussehens

Lukrez, "De rerum natura"

 

Markus Kottmann ist Maler.

Nur bei oberflächlichem Betrachten präsentiert sich seine Malerei als eine peinture pure, als eine Malerei um der Malerei willen. Tatsächlich ist sie alles andere als „gegenstandslos“; selbst wo die farbigen Schlieren in der Tradition des „abstrakten Expressionismus“ geschlungen scheinen, wäre sie im eigentlichen Sinne konkret, indem sie Farbe, Form und Geste der Malerei, vor allem aber ihre Veränderbarkeit, zum Thema macht. Darüberhinaus lassen sich die Farbkurven zumeist als „Wolken“ deuten. Um die „Bildwerdung“, die Entstehung eines Bildes während des Malvorgangs zu demonstrieren, eignet sich besonders das Motiv der Wolke, die ihrerseits ständig unterwegs und in Bewegung ist, mal schneller, mal langsamer ihre Formen wechselt.

 

Kottmann arbeitet an und in drei Werkgruppen:

- Die Gruppe der zwei kleinen Bilder besteht aus jeweils zwei Gemälden, die untereinander angeordnet werden. Aufgrund dieser Anordnung wirken sie zwar zunächst wie zwei Standbilder eines Filmstreifens; doch soll keineswegs eine zeitliche Abfolge oder eine Narration assoziiert werden; vor allem verschwindet im Unterschied zum Ablauf der Filmbilder das erste Bild während der Betrachtung des zweiten nicht! Der Filmemacher Werner Nekes hat den Raum zwischen zwei Filmbildern mit der Einheit kine umschrieben; der eigentliche Film bestehe überhaupt erst in diesen Räumen zwischen den Bildern; ähnlich wäre auch bei Kottmann zu überlegen, ob nicht ein neues Bild zwischen den beiden ausgeführten gedacht werden könnte und dieses die „wahre“ Malerei überhaupt erst entstehen lasse... Dieses interne, nur durch den Betrachter vorzustellende, von ihm selbst einzu-bildende Bild entsteht während der Wanderbewegung der Augen und im unvermeidlichen „Vergleich“ des oberen und des unteren Bildes.

Die vertikale Leserichtung ist für Europäer eher ungewöhnlich, da sie einen Zeichenverlauf von links nach rechts entziffern. Das Stutzen über diese eher in asiatischen Kulturen, z.B. in Rollbildern, gebräuchliche Blickfolge verlangsamt die Wahrnehmung; diese natürliche Bremse läßt den Bildern somit mehr Aufmerksamkeit zukommen und versetzt den Betrachter in die Bereitschaft zu meditativem Schauen.

Das Untereinander erinnert auch an die parallele Notation von Musikstimmen in einer Partitur. Kottmanns Bilder wirken in diesem Sinne wie Visualisierungen der zweistimmigen Inventionen und Fugen von Johann Sebastian Bach; so wie in der Fuge (anders als im Kanon!) ein Thema in einer anderen Tonhöhe wieder aufgegriffen und variiert wird, wiederholt Kottmann eine Bildidee nie auf völlig identische Weise.

 

 

- In einer zweiten Gruppe werden jeweils „zwei gleiche Bilder“ nebeneinander gehängt. Der Betrachter ertappt sich dabei, die „gleichen Bilder“ mit dem Blick desjenigen zu erfassen, der Original und Fälschung, Vorher und Nachher differenzieren soll.

Durch die einmalige „Wiederholung“ des Malvorgangs entsteht jeweils ein zweites Bild, dessen minimale Abweichungen vom ersten Bild dessen Einzigartigkeit noch betonen. Hatte Walter Benjamin den möglichen Aura-Verlust des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erörtert, wird Kottmann selbst zum mechanischen Reproduzenten seiner eigenen Bilder; sie erhalten ihre Aura gerade durch die Doppelung, die zweimalige Formulierung eines je besonderen Eindrucks und Augenblicks. Jedes Bild stellt ein optimiertes künstlerisches Produkt dar; nie ist das zweite Bild besser, schöner oder schlechter als das erste. Damit ironisiert er zugleich den künstlerischen Anspruch absoluter formaler und emotionaler Einmaligkeit eines Werkes.

 

- Die „Austauschbilder“ unterscheiden sich von den vorherigen Werkgruppen nicht nur durch Größe und Motiv, sondern vor allem dadurch, dass sich die Varianten bereits dem ersten Blick plakativ eröffnen:
Jeweils ein Detail des Bildes (etwa die Wasserfläche des „Schwimmers“ oder das Firmament hinter dem „Tafelberg“) wird gegen eine völlig andersartige Darstellungsweise ausgetauscht; glatt gegen rau, naturalistisch gegen reduziert, starr gegen bewegt. So erhebt sich der Hinterkopf des „Schwimmers“ im ersten Bild aus blaurauschendem Strudel, im zweiten scheint er aus einem monochromen Farbblock zu ragen.

 

In der mentalen Sammlung vor den Bildpaaren, im vertiefenden Schweifen des Blicks von oben nach unten, von rechts nach links gewinnt der Betrachter aus ihnen jene beruhigende Kraft, die die Legende Bachs Goldberg-Variationen zuschrieb: Das Lauschen auf das immer Gleiche in der bemerkenswerten Abweichung soll den Grafen Keyserlingk, für den sie komponiert wurden, von seinen Schlafstörungen geheilt haben. Auf diese Weise war eine musikalische Enzyklopädie aller Möglichkeiten der Stimmung, der Charakteristik und der Kombinatorik entstanden. Eine ähnliche Enzyklopädie mit den Mitteln der Malerei und der „mechanischen Reproduktion“ erstellt Markus Kottmann.